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Master Will and the meditative Horrorhouse

2020
Teppichboden (blau und grün), Gehwegplatte, Rigipsplatte, Holzbock,Fußleisten,Styropor, Lochband, Wolle, Nägel, Zahnstocher, Knetmasse, Glitzer, Kleber, Tomatenmark, Gummiwürmer, Silikon,
Kaugummi, Staubsaugerbeutel, Pappkisten, Schaschlikspieße, Pfeifenreiniger, Lichterketten, Fahrradleuchten, Bluetoothlautsprecher, ein linker Schuh von Master Will, Acrylfarbe, Lack


Sound:
Zu hören ist die verfremdete Stimme von Benjamin Blümchen, die in überlagerten Sätzen sagt: „Oh, ist das Leben nicht schön? Und geht‘s uns nicht gut? Geht‘s uns nicht wahnsinnig gut?“

Lisa Sinas Schaffen ist aussergewöhnlich und selten geworden in diesen Tagen merkantiler künstlerischer Interessen und hochästhetisierter Anbiederungen an den Kunstmarkt. Sie schafft Werke, die unsere Gesellschaft in der Zeit ihrer Zerbrechlichkeit und deren infrage zustellender Wertesysteme untersucht und skeptisch hinterfragt.
Sie ist geistige Erbin des Dada und des Fluxus. Als ihre nahen Verwandten wären Antonin Artaud (Totaltheater), Dieter Roth (Resteverwertung), Isa Genzken (Spiegelfetische) und Richard Tuttle (lapidar Hingeworfenes) zu nennen. So kommt es bei ihr nicht allein auf das Kunstwerk an, sondern auf die schöpferische Idee, die die Selbstaktivität, das Mitdenken und den Reflexionswillen des Betrachters auffordert ihre Versuchsanordnungen und territorialen Grenzabsteckungen nach eigenen Maßstäben zu folgen. Der fließenden Übergang zwischen Kunst, Leben und „was ist das?“ wird bei ihrer Strukturierung von Erfahrung in Form von seltsamen raumillusionistischen Werken wahrnehmbar. Sie schafft viele kleine, subtile, intime Interventionen. Auf eine aktuelle grösser angelegte Installation „Master Will and the meditative Horrorhouse“ von Anfang 2020, gehe ich im Folgenden genauer ein. Hierbei handelt sich um eine Rauminstallation, die aus verschiedenen Objekten und Materialien lose zusammengesetzt ist und mit unterschiedlichen Lichtquellen wie z.B. Diodengirlanden, Fahrradrückleute oder elektrischen Teelicht zum Leuchten gebracht wird, mit Sound ergänzt und durch Flachrelief-Wandstücken aus bemalten Staubsaugerbeuteln und einem Minisetzkasten mit einer bunt blinkenden Leuchtfadenshow komplettiert wird. Der Raumkörper besteht aus den unterschiedlichsten Fund-, Kleidungs- und Alltagsgegenständen, ist mit Acrylfarbe und Lack wie ein archaischer Fetisch übergossen, hat Spuren, die auch von Tieren stammen könnten, ist mit ausgekautem Kaugummi und wenigen Tape-Streifen zusammengehalten, eine ephemere, fragile, ruinöse, postromantische, schmutzig strahlende Erscheinung. An den Fenstern der architektonisch brutalistisch anmutenden Installation, stehen abgefackelte Streichhölzer wie Zinnsoldaten und scheinen wie die Besucher der Jahresausstellung der HfK Bremen im Februar die verfremdete Stimme von Benjamin Blümchen zu hören, die in überlagerten Sätzen, als Chor singt: „Oh, ist das Leben nicht schön? Und geht‘s uns nicht gut? Geht‘s uns nicht wahnsinnig gut?“; eine Meditation. Ernsthaftigkeit wird hier mit Albernheit vermählt. Albernheit als Überlebensstrategie, wo doch Ernsthaftigkeit allein nur Bedeutung und Reputation mit sich bringt. Es ist Sinans gewisse Uneitelkeit den Anderen, dem Publikum, der Theorie, den Kollegen gegenüber, ein Agieren im Grenzbereich von spielerischem Dilettantismus und künstlerischer Präzision, die ihre ganz persönlichen charmanten
zauberhaften Konkretisierungen prägt.
„Dilettant“ oder „Amateur“ will sich niemand schimpfen lassen. Alle sind Profis, von Vater/Mutter, über den Schaffner bis zum Manager, Kunstprofessor und Politiker, und alle haben nichts zu lachen, vor allem in Zeiten von Corona.

Sinan benutzt die dilettantischen Methoden, denn es heisst, nur die Dilettanten hätten eine wahrhafte Liebe zu den Dingen, auch den kleinsten und nichtigsten. Sie wirft ihr Licht genau darauf! Immer auf der Lauer liegen, stete Aufmerksamkeit, genaue Beobachtung, Differenzierung, die eigentlich vom Spezialisten erwartet werden, führen bei ihr in offene Räume, in denen sich die Liebhaberdetails mit anderen Details verbinden und etwas wirklich Neues, Magisches kreiren und dabei an Lautréamonts „das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ erinnern. Sie verweilt im „Nichts“, ist offen für eine Erfahrung und eine Begegnung jenseits ihres Wissens und Denkens und ihr Werk kann als Schlüssel für eine andere Weltanschauung genutzt werden.

Lisa Sinans Werke sind geprägt von Frische, Prägnanz und Ehrlichkeit und machen Spass betrachtet, gehört und mitunter auch gerochen zu werden. Mit ihrer Nähe zu Alltag, Kindheit, Spiel und Volk sind sie trotz all der Rätselhaftigkeit zugänglich und singen ein Hohelied von Überschreitung, Übertreibung, lächelndem Kontrollverlust, Mutwilligkeit, Regelwidrigkeit oder herrlich unterhaltsamer Impertinenz an dem sich jeder berauschen kann.

Dirk Meinzer